Darf der Christ ein Vaterland haben? Anmerkungen zu Iwan Iljins Konzept des „christlichen Nationalismus“
Von Gregor Fernbach
CRISIS︱Ausgabe 2︱Herbst 2022︱Christ – Kirche – Staat

Der Begriff des „Nationalismus“ war – und das nicht nur aus heutiger zeitgeistiger Sicht – von Iwan Iljin durchaus keine gute Wahl. Das zeigt die Geschichte, als auch die heutige Besetzung dieses Wortes. Eines Begriffs, dessen Ursprung in der Französischen Revolution liegt, denn erst in der Revolution wurde proklamiert, dass das Volk, la nation, der Träger der Souveränität ist. Konsequenterweise schafften die Revolutionäre die Monarchie ab und enthaupteten 1793 den rechtmäßigen König Ludwig XVI. In Folge der Napoleonischen Kriege verbreiteten sich die liberalen Ideen der Französischen Revolution und mit diesen die des Nationalismus in ganz Europa. Ein politischer Kampfbegriff war geboren und dessen modernistische Gedanken stellten in vielen weiteren Ländern die Monarchie und die Autorität der Kirche in Frage. In seinem Hauptwerk Byzantinismus und Slawentum führt Konstantin Leontjew (1831–1891) aus, dass die „Idee der Nationalstaaten in der jetzigen modischen Art, in welcher Napoleon III. sie in die Politik eingeführt hat, nichts anderes ist als die liberale Demokratie selbst, die schon seit langem an der Zerstörung der großen kulturellen Welten des Westens arbeitet. … Die Idee der Nationalitäten ist in der Art, in welcher sie im 19. Jahrhundert existiert, eine ganz kosmopolitische, staatsfeindliche, antireligiöse Idee, sie hat in sich viel zerstörerische Kraft und nichts Schöpferisches …“
Als überzeugter orthodoxer Christ und Monarchist stand Iljin selbstverständlich den nationalistischen Idealen der Revolution fern, hatte er doch deren destruktives Wirken in seiner Heimat am eigenen Leibe erfahren. Folglich betrachtete er die in den 1920er und 30er Jahren aufkommenden nationalistischen und faschistischen Bewegungen Europas als eine antibolschewistische Gegenbewegung gegen die Gefahr der Weltrevolution …