Über den christlichen Nationalismus
Von Prof. Iwan A. Iljin
CRISIS︱Ausgabe 2︱Herbst 2022︱Christ – Kirche – Staat

Die Kultur wird nicht von einem einzelnen Menschen gemacht. Sie ist das Erbe vieler Menschen, die geistig miteinander vereint sind. Jedes Freundespaar bildet in seiner Beziehung ein bestimmtes Kulturniveau und schafft bestimmte kulturelle Werte. So verhält es sich auch in der Familie, in der Gesellschaft, in jeder Organisation und bei jedem Volk. Die Menschen schließen sich nicht zufällig zusammen: durch die Verwandtschaft der materiellen und geistlichen Interessen ziehen sie sich gegenseitig an. Aus dieser Verwandtschaft erwächst die Gemeinschaft; eine langanhaltende Gemeinschaft vergrößert die gegenseitige Ähnlichkeit, und wenn die Gemeinschaft schöpferischen Charakter trägt, so wächst auch die gegenseitige Anziehung, die gemeinsame Bindung wirkt verstärkt. Dieses Band wird weiter gefestigt durch die von Generation zu Generation weitergegebene Tradition. So bildet sich nach und nach eine einheitliche und allen gemeinsame Kultur heran.
Die tiefste Einigung der Menschen entspringt aus ihrer geistlichen Homogenität, aus ihrer zueinander passenden seelisch-geistigen Veranlagung, aus der gleichen Liebe zu ein und demselben Ideal, aus dem gemeinsamen Schicksal, das sie im Leben und im Tod verbindet, aus der gleichartigen Lebensanschauung, aus der gleichen Sprache, dem gleichen Glauben und dem gemeinsamen Gebet. Genau das ist die nationale Einigung der Menschen.
Das Nationalgefühl steht nicht nur in keinem Widerspruch zum Christentum, sondern es empfängt von ihm seinen höchsten Sinn und sein Fundament: denn es schafft die Zusammengehörigkeit der Menschen im Geist und in der Liebe und klammert das Herz an das Höchste auf Erden – an die Gaben des Heiligen Geistes, die jedem Volk gegeben werden und die von jedem auf seine eigene Weise in der Geschichte und im kulturellen Schaffen verwirklicht werden. Deshalb unterliegt die christliche Kultur, die auf Erden gerade als nationale Kultur und als Nationalismus verwirklicht wird, keiner Verurteilung, sondern einer freudigen und schöpferischen Annahme.
Der Nationalismus öffnet dem Menschen auch die Augen für die nationale Eigenheit anderer Völker; er lehrt, andere Völker nicht zu verachten, sondern ihre geistigen Errungenschaften und ihr nationales Gefühl zu würdigen: denn auch sie sind Teilhaber an den Gaben Gottes, und sie haben diese auf ihre Weise verwirklicht.
Iwan A. Iljin
Jedes Volk besitzt einen ihm von der Natur (und das heißt auch von Gott) gegebenen Instinkt und Geistesgaben, welche ihm vom Schöpfer des Weltalls geschenkt wurden. Bei jedem Volk leben Instinkt und Geist nach ihrer Weise und bringen ihre wertvolle Eigentümlichkeit hervor. Daher hat auch jedes Volk seine eigene Art, zu heiraten, Kinder zu gebären, krank zu sein und zu sterben, seine eigene Art, zu faulenzen, zu arbeiten, zu wirtschaften und zu rasten; auf seine eigene Art trauert es, weint und verzagt es, auf seine eigene Art lächelt es, lacht und frohlockt es; auf seine eigene Art schreitet es und tanzt es, singt es und macht es Musik; nach seiner Art redet es, rezitiert es, macht es sich lustig und hält Reden; nach seiner Art beobachtet, betrachtet und malt es; nach seiner Art forscht es, erkennt es, urteilt und beweist es; nach seiner Art bettelt es, ist es wohltätig und pflegt es Gastfreundschaft; auf seine Art baut es Häuser und Kirchen; auf seine Art betet es und ist es heldenmütig; auf seine Art kämpft es … auf seine Art schwingt es sich empor und verzagt es, auf seine Art organisiert es sich. Jedes Volk hat ein anderes, ihm eigenes Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, einen anderen Charakter, eine andere Disziplin, andere Vorstellungen über sittliche Ideale, einen anderen politischen Traum, einen anderen staatlichen Instinkt. Mit einem Wort: jedes Volk hat eine andere, ihm eigene seelische Veranlagung und einen besonderen geistig-schöpferischen Akt. Und jedes Volk hat eine besondere, national gewachsene, national gereifte und national erlittene Kultur …